Ver­tiefende Prove­nien­z­forschung in Sten­dal und Salzwedel

01.02.2021 bis 15.05.2025

Das im Februar 2021 begonnene und nach Verlängerung bis zum 15. Mai 2025 laufende Projekt basiert auf den Erstchecks im Danneil-Museum Salzwedel und im Altmärkischen Museum Stendal, bei welchen ein Bedarf an vertiefender Provenienzforschung zu NS-Raubgut festgestellt wurde. 

Projekttitel: Verdachtsmomente klären – vertiefende Provenienzforschung im Altmärkischen Museum Stendal und Johann-Friedrich-Danneil-Museum Salzwedel

Projektleitung: Dr. Annette Müller-Spreitz

Projektbearbeiterin: Corrie Leitz

Gefördert vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste und vom Land Sachsen-Anhalt

Projektbeschreibung

Dilherr-Bibel (Nürnberg: Endter, 1693) in der Ausstellung „NS-Raubgut oder legales Eigentum? Provenienzforschung am Altmärkischen Museum Stendal und am Danneil-Museum Salzwedel“, 12.05.–8.06.2025, Altmärkisches Museum Stendal

Im Rahmen eines Pilotprojekts in Sachsen-Anhalt haben 2016/17 am Johann Friedrich Danneil-Museum Salzwedel und Altmärkischen Museum Stendal sogenannte Erstchecks zur Provenienzforschung stattgefunden. Dabei waren für beide Museen erste Verdachtsfälle im Hinblick auf mögliches NS-Raubgut in den Museumsbeständen festgestellt worden. Beide Museen hatten und haben mit ihrem Fokus auf die Region Altmark im Norden Sachsen-Anhalts ein vergleichbares Sammlungsprofil mit jeweils spezifischer Akzentuierung.

Das Kooperationsprojekt zur vertiefenden Provenienzforschung an beiden Museen wurde in Trägerschaft des Museumsverbands Sachsen-Anhalt e. V. unter Förderung des Eigenanteils durch das Land Sachsen-Anhalt realisiert. Es handelt sich um die erste Initiative des Museumsverbandes mit der Koordinierungsstelle Provenienzforschung zur vertiefenden Provenienzforschung nach einem Erstcheck und das längste Provenienzforschungsprojekt des Verbandes verbunden mit der Festanstellung einer Provenienzforscherin.

Für die an beiden Museen insgesamt 93 als NS-Raubgut eingestuften bzw. mit einem begründeten Verdacht behafteten Objekte und Bücher wurden Objektdossiers erstellt, um im Sinne der Washingtoner Prinzipien gerechte und faire Lösungen in Bezug auf die Eigentumsfrage und den künftigen Verbleib zu finden. Diese wie auch 117 aus dem Kunsthandel stammende Objekte mit unklarer Vorprovenienz sowie insgesamt vier nach 1945 zugegangene Judaica (eine Menora, drei Messinggefäße), für welche die Provenienz 1933/45 nicht festgestellt werden konnte, werden als Funde an die Lost Art-Datenbank gemeldet.

Das Projekt hat die systematische Bestandsprüfung für die Zugänge 1933–1945, welche zunächst in Salzwedel für ca. 660 und in Stendal für 140 Objekte und Bücher vorgesehen war, geleistet.

Außerdem wurde die in beiden Städten bislang kaum bekannte Institutionsgeschichte während des Nationalsozialismus beleuchtet. Insbesondere wurden die am Sammlungszuwachs in der NS-Zeit beteiligten Institutionen und Personen, d. h. die lokalen, regionalen und nationalen Netzwerke beider Museen und ihrer Träger beforscht. Einen wesentlichen Projektbestandteil bildeten grundlegende Recherchen zu der in beiden Fällen vorab kaum bekannten Vereins- und Museumsgeschichte während des Nationalsozialismus, welche einschließlich der relevanten Personen erstmals tiefergehend anhand von umfangreichem Aktenmaterial aus den Haus- und Stadtarchiven sowie dem Landesarchiv bearbeitet wurde. Insgesamt wurden für Salzwedel 27 und für Stendal 30 museumsrelevante Personen tabellarisch erfasst und für insgesamt 18 Hauptakteure Personendossiers angelegt. Hinweise auf eine Verstrickung wesentlicher Akteure des Altmärkischen Geschichtsvereins Salzwedel in NS-Entzugskontexte fanden sich nicht. Im Allgemeinen Bildungsverein Stendal war dies ebenso bis auf den differenziert zu betrachtenden Einsatz für das ehemalige Logeneigentum.

Für beide Städte wurde auch zum Vermögensentzug während des Nationalsozialismus grundlegend geforscht, um bisher unzureichend dokumentierte Entzugskontexte und den Verbleib des mobilen Besitzes der 1935 aufgelösten Freimaurerlogen aufzudecken. Um Zugänge hinsichtlich eines NS-Raubgutverdachts bewerten zu können, recherchierte die Provenienzforscherin Corrie Leitz im Vorfeld der Bestandsprüfungen  in Literatur, Datenbanken sowie beiden Stadtarchiven zur Feststellung NS-verfolgter Personen und Organisationen sowie zu NS-Aktivisten auf lokaler Ebene. Dabei wurden für die Regionen Salzwedel/ Gardelegen ca. 500 und Stendal/ Osterburg knapp 270 nachweislich oder potentiell verfolgte bzw. vermögensgeschädigte Personen sowie insgesamt ca. 250 NS-Aktivisten tabellarisch erfasst. Zugleich standen die am Sammlungszuwachs der NS-Zeit beteiligten Personen und Institutionen, also die Netzwerke der Museen bzw. Vereine, im Fokus. In diesem Sinne wurden u. a. 42 Geschäftspartner erfasst und auf ihre mögliche Beteiligung am Handel mit NS-Raubgut geprüft. Außerdem wurden in den lokalen, aber auch externen Archiven Recherchen zum Vermögensentzug im Nationalsozialismus in beiden Städten unternommen.

Angesichts dessen, dass im Bestand beider Museen Masonica, d. h. freimaurerische Objekte, Bücher und Schriftgut, festgestellt wurden, standen vor allem die lokalen, 1935 auf Druck des NS-Regimes aufgelösten Freimaurerlogen im Fokus. Dabei wurden neben den in beiden Stadtarchiven vorhandenen Akten insbesondere die im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, überlieferten Liquidationsakten beider Logen sowie ein Teil der ebenfalls dort lagernden 1935/36 beschlagnahmten Akten der beiden Logen, insgesamt ca. 3.000 Blatt, gesichtet, erstmals ausgewertet und dabei wesentliche Erkenntnisse zu den bisher völlig unbekannten Abläufen bei der Liquidation der Logen und zum Verbleib ihres mobilen Besitzes gewonnen.

Im Zuge der Bestandsprüfungen wertete die Provenienzforscherin  zunächst neben der Zugangsdokumentation der Museen auch die in den Untersuchungszeitraum fallenden Bestände der Hausarchive sowie thematisch in Frage kommende Bestände der Stadtarchive sowie im Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Bundesarchiv und Landesarchiv Berlin - insgesamt mehrere tausend Blatt Akten - aus. Die Ausgangsbasis für eine systematische Provenienzforschung zur NS-Zeit war am Danneil-Museum Salzwedel arg beschränkt, da die zeitgenössische Sammlungsdokumentation lückenhaft überliefert ist und die gedruckten Jahresberichte des Vereins im Untersuchungszeitraum Sammlungszugänge gar nicht oder ausschließlich in Bezug auf archäologische Funde thematisierten. Daher kam der Erschließung von Sekundärquellen im Haus- und Stadtarchiv (zeitgenössische Schriftwechsel, Akten des Altmärkischen Geschichtsvereins) besondere Bedeutung zu. Für die Vereinsbibliothek bestand zunächst eine Überlieferungslücke 1933/36, welche im Zuge des Projekts durch Identifizierung der zugehörigen Quelle geschlossen werden konnte, so dass zumindest die per Zugangsdokumentation erfassten Bibliothekszugänge der NS-Zeit nunmehr vollständig überliefert zu sein scheinen. Für die parallel vorhandene museumseigene Bibliothek ist keine Zugangsdokumentation bzw. kein entsprechendes Inventar überliefert.

Im Altmärkischen Museum Stendal war die Quellengrundlage für die systematische Provenienzforschung deutlich besser. Hier standen ein kontinuierlich geführtes zeitgenössisches Zugangsverzeichnis (1899–1954) und Bibliotheksinventar (Ende 19. Jhdt. bis 1947/48) und mehrere Sekundärquellen wie ein (lückenhafter) Zettelkatalog zur Sammlung, ein Postein- und Ausgangsbuch 1936–1944, zugehörige (lückenhaft überlieferte) Schriftwechsel in insgesamt sieben nach 1945 neu strukturierten Aktenordnern sowie die Vereinsberichte in der bis 1941 erschienenen Schriftenreihe des Altmärkischen Museumsvereins zur Verfügung. Allerdings enthalten sowohl das Zugangsverzeichnis als auch die Vereinsberichte Provenienzangaben regelmäßig nur bei Schenkungen, der Zettelkatalog und das Bibliotheksinventar i. d. R. keinerlei Vermerke zur Provenienz. Aufgrund dessen war die Suche nach und Erschließung von weiteren Sekundärquellen im Haus- und Stadtarchiv von Bedeutung. Für die Buchzugänge war zudem die Identifizierung zusammengehöriger Zugangskonvolute nur eingeschränkt möglich, da das Bibliotheksinventar nach Sachgebieten strukturiert ist, in welchen die Titel ohne Zugangs-/ Erfassungsdatum einzeln unter der jeweiligen Signatur vermerkt sind.

Für das Danneil-Museum Salzwedel ließen sich aufgrund der teils äußerst unvollständig überlieferten Zugangsdokumentation der NS-Zeit im fraglichen Zeitraum insgesamt ca. 110 Sammlungszugänge rekonstruieren, welche sich in einer ersten Bewertung als größtenteils unverdächtig im Hinblick auf einen evtl. NS-verfolgungsbedingten Vermögensentzug erwiesen. Zur Feststellung eventuell NS-belasteter Sammlungsobjekte erfolgten daher in größerem Umfang Stichprobenprüfungen von Objekten mit Datierungen bis 1945, die nach 1945 erstmals oder neu mit dem Herkunftsvermerk „Altbestand“ inventarisiert wurden, also deren Herkunft und Zugangszeitpunkt unklar sind. In Bezug auf die Museumsbibliothek waren anhand der größtenteils überlieferten Zugangsdokumentation insgesamt ca. 1.250 Zugänge zwischen 1933 und 1945 feststellbar.

Außerdem waren in Salzwedel ca. 600 Zugänge von Objekten und Büchern zu prüfen, welche in die Amtszeit des früheren Museumsleiters Walter Neuling (1894–1973, 7/1948 bis Anfang 1956) fallen. Ebenso war ein aus seinem Nachlass stammendes Konvolut von mehr als 100 Objekten und Büchern zu untersuchen. In einem Provenienzforschungsprojekt am Potsdam-Museum war der Verdacht auf die Existenz von NS-Raubgut in dessen 1960/61 von DDR-Behörden beschlagnahmten Privatsammlung ausgesprochen worden. Daher war zu prüfen, ob Objekte und Bücher aus seiner Sammlung in das Salzwedeler Museum gelangt waren und ob darunter gegebenenfalls NS-belastete Stücke seien. Bei den in beiden Beständen durchgeführten Stichproben ergaben sich in keinem Fall Belege für NS-Raubgut. 

Insgesamt wurden in Salzwedel ca. 620 Objekte und Bücher einer genaueren Prüfung einschließlich Autopsie unterzogen. Dabei wurden insgesamt drei NS-belastete Objekte und sieben weitere mit begründeten Verdachtsmomenten festgestellt.

Im Altmärkischen Museum Stendal waren zunächst auf Basis des Erstcheck-Berichts ca. 140 Objekte und Bücher aus unklaren und teils verdächtigen Zugängen zu prüfen. Bei der Auswertung der zeitgenössischen Zugangsverzeichnisse wurde allerdings deutlich, dass wesentlich mehr der insgesamt ca. 2.600 zwischen 1933 und 1945 belegbaren Zugänge eine unklare Provenienz besaßen bzw. verdächtig im Hinblick auf NS-Raubgut waren. Daher wurden im Rahmen der Projektverlängerung sämtliche Zugänge der NS-Zeit systematisch analysiert und einer Erstbewertung unterzogen. Für 570 Zugänge mit Verdacht auf NS-Raubgut sowie solche mit unklarem Erwerbskontext erfolgte eine Tiefenprüfung einschließlich Autopsie. Außerdem wurden ca. 60 weitere, nach 1945 inventarisierte Objekte und Bücher überprüft, für welche ein NS-Raubgutverdacht in Frage kam, da sie einen jüdischen oder freimaurerischen Kontext besitzen. Obwohl nicht alle Objekte und Bücher im Bestand identifiziert werden konnten, wurden 422 Objekte und Bücher autopsiert.

Im Ergebnis der tabellarisch wie auch fotografisch detailliert dokumentierten Bestandsprüfungen wurden für das Altmärkische Museum 52 Objekte und Bücher mit einem nachweisbaren NS-Entzugskontext und 31 mit deutlichen Verdachtsmomenten festgestellt. Dabei handelt es sich mit Ausnahme von zwei 1938 bei J. A. Stargardt, Berlin, (Inhaber: Günther Mecklenburg) ersteigerte Autographen (des bei Stendal geborenen Afrikaforschers und späteren Reichskommissars für Deutsch-Westafrika, Gustav Nachtigal (1834–1885), und einem 1936 angekauften Buch (Johann Angelius von Werdenhagen: De rebus publicis Hanseaticis, 1631) um Objekte, Bücher und Schriftgut aus dem Besitz der 1935 aufgelösten Stendaler Freimaurerloge „Zur goldenen Krone“.

Für Stendal ist in der Gesamtschau der hausinternen und externen Akten sowie der Sammlungsdokumentation festzustellen, dass in enger Zusammenarbeit des Museumsverwalters Franz Kuchenbuch (1863–1944) mit dem letzten Meister vom Stuhl der Stendaler Loge, Studienrat Karl Wilhelm Wernicke (1865–1944), ehemaliges Logengut in die Sammlung und Bibliothek des Museumsvereins gelangte. Ungeachtet dessen, dass es sich um eine Rettungsaktion handelte, ist dieses Konvolut als NS-belastet einzustufen.